Fine Art

2005 erhielt Thomas Neuroth, der inzwischen in Münster lebt, einen Anruf seines ehemaligen Neuschwanstein-Flötisten Klaus Mayer, in dem er mitteilte, dass ihr früherer Neuschwanstein-Manager, Ulli Reichert, auf sehr tragische Weise ums Leben gekommen sei. Auf dieses Telefonat folgten etliche weitere, die darin gipfelten, nach so langer Zeit gemeinsamer musikalischer Bandabstinenz wieder zusammen Musik zu machen. Das Kapitel „Neuschwanstein“ war irgendwie also doch noch nicht zu Ende.

Es hat mächtig rumort. […], es musste raus. Nachdem ich lange Zeit nicht komponiert hatte, schwirrten dermaßen viele Ideen in meinem Kopf, auf Zetteln notiert, in dutzenden kleiner Entwürfe und Studien am Klavier herum. Das musste gemacht werden.

Thomas Neuroth, Interview mit Tim Stecher, Empire Musikmagazin, Nr. 119, S. 18-19, 2017
Thomas Neuroth

Etwa 2007 hat Neuroth damit begonnen, seine aus den vergangenen Jahren stammenden diversen Kompositionen und Entwürfe zu sortieren und zu Papier zu bringen. Er sagte im Dezember 2021 dazu:

Es hat […] gut ein Jahr gedauert, bis ich mir über die Konzeption des neuen Albums im Klaren war, die Besetzung, den Stil und den Klang. Ein Wachstumsprozess mit vielem Für und Wider, immer wieder erweitert, ergänzt, komplett gestrichen und wieder neu angedacht.

Zunächst wurde über einen sehr langen Zeitraum teils in Neuroths Heimstudio, teils über das Internet musiziert, was zum damaligen Zeitpunkt vor allem technisch nicht ganz problemlos verlief. Nach langen Mühen der Zusammenarbeit über große Entfernungen hinweg waren die Aufnahmen so gut wie fertig, wurden jedoch nicht gänzlich abgeschlossen, da sich die Wege der beiden Ur-Neuschwansteiner aus diversen Gründen wieder trennten.

Neuroth ließ die Idee zu diesem neuen Neuschwanstein Album jedoch keine Ruhe, so dass er wieder von vorne anfing, jedoch diesmal nicht über das Internet, sondern mit Gastmusikern und größten Teils vor Ort. Zwei Jahre lang wird in Neuroths kleinem Heimstudio aufgenommen; nochmal zwei Jahre sitzt er an der Mischung des opulenten, synthesizerfreien Klangbilds mit Flöten, Streichern und einem donnernden Rock-Instrumentarium. Nochmal ein Jahr lang beschäftigte er sich mit der Gestaltung des Covers. Insgesamt sollte der gesamte Entstehungsprozess, von der Geburt der Idee bis zur endgültigen Veröffentlichung, mehr als acht Jahre dauern.

Die Auswahl der Musikerinnen und Musiker ist kein Zufall: Als Neuroths Band Neuschwanstein sich 1980 aufgelöst hatte, spielte er weiterhin zusammen mit Michael Kiessling († 2019) in der Michael Kiessling Band. Schlagzeuger der Band war Rainer Kind, der unter anderem für Matthias Reim spielte und dessen Musical Director er war. Diese Formation nahm 1989 eine CD auf, Kiessling Band, auf der Markus Salzmann zusammen mit Robby Musenbichler die Gitarrenparts einspielte. Sowohl Kind als auch Musenbichler erklärten sich bereit, bei der Produktion von „Fine Art“ mitzuwirken. Neuroths Sohn Valentin ergänzte Musenbichlers Gitarrenparts als zweiter Gitarrist.

Weitere Musikerinnen und Musiker aus Münster gesellten sich alsbald hinzu: Gary Wolf als Querflötist, die Blockflötistin Gudula Rosa, die Geigerin Sabine Fröhlich und der Pianist Karl Szelnik.

Aus Kostengründen konnten die neuen Kompositionen von Neuschwanstein nicht mit einem echten Orchester eingespielt werden, so dass Thomas Neuroth auf weiten Strecken auf eine Orchester Library zurückgegriffen hat. Damit der Sound allerdings nicht zu künstlich wirkte, hat die Geigerin Sabine Fröhlich im Overdubbing Verfahren mehrfach sowohl Violin- wie auch Bratschenspuren eingespielt. Sie sei „fast gestorben“, sagt Neuroth, als er ihr seine Pläne für seinen möglichst satten Sound erklärt hatte: vierzehmal soll sie für einen Titel die Stimme der ersten Geige einspielen, zwölfmal die der zweiten, die Bratschen zehnmal, und die Solovioline sowieso.

Ursprünglich plante Neuroth eine Veröffentlichung durch das Musea Label, welches bereits die beiden früheren Neuschwanstein Alben herausgebracht hatte und grundsätzlich an „Fine Art“ interessiert war. Ein Deal kam jedoch letztendlich nicht zustande. Aus diesem Grund gründete Neuroth sein eigenes Label, LongBow Records.

Die Musik

Symphonisch-neoromantischer Orchesterklang und rockige Kapelle – Miteinander, gegeneinander, fugisch verzahnt und völlig frei. Emotional und wahrhaftig. Instrumental, wie in den ersten Jahren. Musik, die Geschichten erzählt. Programmmusik.

Thomas Neuroth

So beschreibt der Komponist seine Musik selbst und damit wird klar, dass es sich in der Tat nicht um einen reinen Nachfolger im Stile von „Battlement“ handeln kann. Es ist ein Album voller Gegensätze. Ansatzweise ist Progressive Rock zu hören, manchmal sogar etwas Heavy oder gar Hard Rock in bester Deep-Purple-Manier, dann wieder neo-romantisches Symphonieorchester. Es dominiert die Kombination von Rockband und Orchester, wobei die beiden nicht als Antagonisten musizieren, sondern die Band als fest integriertes Instrumentarium des Orchesters fungiert.

Ich wollte etwas machen, was so noch niemand macht oder gemacht hat. Orchester und rockige Kapelle. Das einmal als Ganzes sehen. Ein Orchester mit zusätzlichen Instrumenten, eine stark erweiterte Band. Nicht nur den einen die Begleitung des anderen sein lassen. »E-Gitarre ins Orchester! Nehmt die Hammond mit dazu!« Das sollte man laut und immerzu skandieren.

Thomas Neuroth, Interview mit Tim Stecher, Empire Musikmagazin, Nr. 119, S. 18-19, 2017

In ähnlicher Weise hat schon Jon Lord (Deep Purple) diesen schwierigen Spagat mit seinem „Concerto for Group and Orchestra“ gewagt. Im Unterschied zu Jon Lords Concerto, wo die Rockinstrumente über weite Strecken als Soloinstrumente behandelt werden, sind diese in „Fine Art“ integrale Bestandteile des ganzen Klangefüges. Selbst dann, wenn z. B. Musenbichlers E-Gitarre solistisch agiert, drängt sie sich dem Hörer nicht auf, sondern wird überraschenderweise lautstärkemäßig zurückgehalten, so dass alle Instrumente gleichberechtigt neben- und miteinander zu hören sind.

So gesehen steht „Fine Art“ zweifelsfrei als Beispiel für Symphonic Rock und reiht sich ein in Werke von The Nice, Emerson, Lake and Palmer oder auch Ekseption.

Es wundert also nicht, dass das Album nahezu ein vollständiges Instrumentalalbum geworden ist. Von den 10 Titeln (9 auf der LP) sind drei Adaptionen klassischer Kompositionen, und zwar von Claude Debussy, Camille Saint-Saëns und J. A. P. Schulz.

Die Titel

1. Fêtes

Fêtes (frz. für „Feste“) basiert auf dem zweiten Teil Claude Debussy „Trois Nocturnes“ (1899). Eingeleitet wird Fêtes von einem Cembalo, einer Blockflöte sowie einem Schellenkranz im spätmittelalterlichen bzw. frühen  Renaissance-Stil (wäre das Cembalo eine Laute oder Schoßharfe, könnte man diese Einleitung mittelalterlichen Spielleuten zuordnen).

Es folgt die rund zehnminütige Adaption der Komposition von Debussy, die mit einem donnernden Rockensemble von den Spielleuten übernimmt, dominiert von E-Gitarre und Leslie-Hammondorgel, immer im Austausch mit den übrigen Orchesterinstrumenten. Häufige Rhythmuswechsel machen deutlich, dass es in dieser Adaption in Richtung Progressive Rock geht. Etwa in der Mitte endet das turbulente Jagen des Hauptthemas durch die verschiedenen Instrumente in einem furiosen Halbfinale. Nach einer kurzen Unterbrechung setzt das Stück mit einem Ostinatomotiv fort (unterlegt mit surrealistischen Klanggebilden), welches sich bolerohaft nach und nach in Dynamik und Tonhöhe steigert. Auch in diesem zweiten Abschnitt der Adaption dominieren Hammondorgel und E-Gitarre. Gegen Ende übernimmt wieder das Hauptthema im Wechsel zwischen Rock- und Orchesterinstrumenten. Zu den verblüffenden Ähnlichkeiten zwischen dem, den „Trois Nocturnes“ zugrundeliegenden, Ostinatomotiv von Claude Debussy und dem „Boléro“ von Maurice Ravel ist lediglich zu sagen, dass Ravels Komposition erst 28 Jahre später erschien.

2. Per omnem vitam

Grafik aus dem Album

(lat. für „Durch das ganze Leben“) ist einer der persönlichsten und kräfte-zehrendsten Titel auf diesem Album, wie Thomas Neuroth selbst konstatiert. Die Arbeiten daran dauerten mehr als ein halbes Jahr.

Ein Rezensent schreibt in seinem Blog dazu:

Allein als klassische Komposition finde ich das Stück einfach brillant… sollte in den Sinfoniesälen auf der ganzen Welt gespielt werden… Ich liebe es, wie es sich auf halber Strecke verändert und zum Ende hin sehr symphonisch-dramatisch oder OST wird. Wie können Menschen so brillante Musik schreiben?

Julian Ryan, November 2021, aus dem Englischen übersetzt

Das Stück besteht aus zwei Abschnitten, einem reinen Orchesterarrangement, welches von einer melancholischen Querflötenmelodie dominiert wird sowie einem rockigen Teil, mit treibendem Schlagzeug und Gitarrensolo, welcher gegen Ende thematisch und klangmäßig wieder zum ruhigen Anfang zurückkehrt.

3. God’s little plan

Dieses kurze Interludium ist nach Aussage von Thomas Neuroth „eine Studie zum Titel The Distributor für zwei Klaviere“, welches er zusammen mit dem Pianisten Karl Szelnik eingespielt hat. In der Tat lassen sich gewisse Motivähnlichkeiten jeweils zu Beginn der beiden Kompositionen erkennen. Bei genauerem Hinhören sind Emerson, Lake und Palmer-typische harmonische Akkordrückungen gegen Ende des Stückes nicht von der Hand zu weisen.

4. & 5. Florence Coleman Pt. 1 & 2

Während eines Aufenthaltes in Paris fand Thomas Neuroth in einem Antiquariat eine englischsprachige Tageszeitung aus Boston (USA) aus dem Jahr 1910, in der von einem tragischen Unfall eines Kindes der prominenten Familie Coleman berichtet wurde. Darin war zu lesen, dass deren Tochter Florence kurz vor ihrem 12. Geburtstag beim Spielen auf der Straße von einem Pferdefuhrwerk erfasst wurde und an den Folgen der schweren Verletzungen starb.

Grafik aus dem Album

Dieses Ereignis inspirierte Neuroth zu „Florence Coleman“, den er in zwei Teile gliederte, um die unterschiedlichen Stimmungen zum Ausdruck bringen zu können: Von der Vorfreude auf den Geburtstag, über den Unfall bis hin zur Trauer über den Verlust des Kindes. Dementsprechend sind Part 1 und Part 2 stark kontrastierend: Während Part 1 von lautstarken E-Gitarren, einer Querflöte sowie einem treibenden Schlagzeug dominiert wird, ist Part 2 ein reiner Orchesterteil mit einem gefühlvollen Klavierthema in der Mitte.

6. The Angels Of Sodom

Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorrha und vernichtete die Städte und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und was auf dem Lande gewachsen war.

1. Buch Mose, Kapitel 19, Vers 24 ff.

An diesen Bibelvers musste Thomas Neuroth denken, als ihm in einem Pariser Antiquariat die Satirezeitschrift Le Charivari vom Juli 1842 in die Hände fiel, in der eine Lithografie des Künstlers Pierre Joseph Challamel, Les Anges de Sôdome, abgedruckt war.

Inspiriert durch diese biblische Geschichte entstand seine Komposition, in der er die göttliche Gewalt, die über diese sündigen Städte hereinbrach, durch eine entsprechende gewaltige Musik zum Ausdruck bringen wollte

Ein ansteigendes Donnerrollen des Orchesters geht über in ein gedoppeltes Gitarrenthema, getragen von einer donnernden Rhythmusgruppe sowie zu einem Thema unisono spielenden voll besetzten Orchester. Ab dem zweiten Drittel des Stückes wechselt der Rhythmus und das Tempo zieht noch weiter an, was die Flucht Lots und seiner Familie symbolisieren soll.

7. Die Geschichte vom kleinen Hähnchen

ist das wohl kurioseste Stück auf diesem Album, ein „komödiantisches Intermezzo“.

Es beginnt zunächst mit einem sehr eigenwilligen, äußerst guttural gesprochenem Text über die nicht erhörte Liebe eines kleinen Hähnchens, wobei die ganze Geschichte aus nur einem einzigen Satz geformt ist:

Grafik aus dem Album

Es folgt – die allseits zu denken gebende sowie zur allerhöchsten moralischen Erbauung trefflichst geeignete Geschichte des kleinen Hähnchens, dessen grenzenlose Liebe, entgegen der schon für damalige Verhältnisse hohen Erwartungen all derer, die von der Sache wussten, nicht erwidert, sein Flehen – nach einigem trügerischen Hin und Her -, begleitet von anzüglichen Blicken und leichtfertig gemachten Versprechungen, schließlich und endlich doch nicht erhört wurde, das sich aber, ganz ein Hähnchen von Welt, nicht sonderlich beeindruckt zeigte und seiner Wege ging, was natürlich, man erlebt solcherlei heutzutage immer häufiger bei Angelegenheiten von derlei immenser Delikatesse, direkt einige zu der lauthals geäußerten Mutmaßung veranlasste, dieses Hähnchen sei wohl aus gutem Hause, insgesamt jedoch auf alle einen sehr guten Eindruck machte.“Die Zeichnung befindet sich auf der Innenseite des Digipacks. Ursprünglich sollte diese Geschichte vom kleinen Hähnchen von Harry Rowohlt gelesen werden, den Neuroth – nicht nur wegen seines Sprachtimbres – sehr verehrte und deswegen bereits mit ihm in Kontakt stand. Dieser verstarb jedoch in der Zeit der Korrespondenz[2], sodass Neuroth die Lesung selbst in die Hand nehmen musste.

Beim Hören erschien vor meinem geistigen Auge sofort ein kleines Hähnchen, das ich auch direkt gezeichnet habe. Ab dem Zeitpunkt war die Zeichnung die Inspirationsquelle für den Text.

Thomas Neuroth, Januar 2022

Die Zeichnung befindet sich auf der Innenseite des Digipacks. Ursprünglich sollte diese „Geschichte vom kleinen Hähnchen“ von Harry Rowohlt gelesen werden, den Neuroth – nicht nur wegen seines Sprachtimbres – sehr verehrte und deswegen bereits mit ihm in Kontakt stand. Dieser verstarb jedoch in der Zeit der Korrespondenz, sodass Neuroth die Lesung selbst in die Hand nehmen musste.

Nach dem Vortrag der Geschichte schließt das Stück mit einem Dialog von Querflöte und Klavier in einem tänzelnden ¾-Takt. Die Harmonik des Stückes bewegt sich zwischen Romantik und Impressionismus. Zusammen mit ersten Aufnahmen von „Der Mond ist aufgegangen“ (s. weiter unten) hat Neuroth diesen Titel bereits 2008 vor allen anderen Kompositionen dieses Albums in Angriff genommen, wobei in der Urfassung die Querflöte noch nicht beteiligt war. Erst nachdem der Flötenpart komponiert war, kam Neuroth die Idee zum Text.

8. The Distributor

Dieser Titel ist ausschließlich auf der CD zu hören, da auf dem LP-Album „mangels weiterer Rillen“ (O-Ton Thomas Neuroth) kein Platz war.

Der Titel basiert auf einem Besuch Neuroths 2015 in Amsterdam, bei dem er sich unter anderem Alexander Taratynows Bronzeskulptur von Rembrandts Die Nachtwache anschaute. Diese Skulptur, direkt vor dem Rembrandt-Denkmal auf dem Rembrandtplein aufgestellt, war zwischen 2012 und 2020 ein wahrer Publikumsmagnet.

Rembrandt-Monument auf dem Rembrandtplein in Amsterdam

Obwohl das Ebolavirus zu diesem Zeitpunkt auch Europa erreicht hatte, konnte Neuroth beobachten, wie Besucher immer wieder die geöffnete und ausgestreckte Hand einer der Figuren anfassten. So drängte sich Neuroth der Begriff des „Verteilers“, des „Distributors“ auf, der das Virus ungehindert millionenfach unter der Menschheit verbreitet und unausweichlich zur Apokalypse führt. Diese Symbolik, so Neuroth, versuchte er auch in seiner eigenen Darstellung auf dem Album mit der geöffneten Hand über dem vom Virus entvölkerten Theatersaal passend zum Titel zum Ausdruck zu bringen:

Als ich im Sommer 2015 in Amsterdam war und alle diese schweißnassen Hände in sekündlichen Abständen die goldglänzende Hand des Frontmannes der Nachtwache anfassen sah, fiel mir der Titel „Verteiler“ ein. Statt “Distributor” wäre möglicherweise der Begriff „Spreader“ besser gewesen. Aber damals kannte ich den Begriff noch nicht.

Thomas Neuroth, Januar 2022

Der Titel beginnt mit einem besonderen Effekt, realisiert auf einer Subbass-Flöte von Gudula Rosa, gefolgt von einem heiteren, beschwingten Orchesterteil mit Soloflöte im Stile der Moderne. Dieser Abschnitt wird abrupt abgelöst von einem Hard Rock Teil, der schließlich in einen Shuffle übergeht, der teilweise bewusst dissonant gehalten ist. Thomas Neuroth beschreibt den Aufbau so:

Gudula Rosas Subbass-Flöte stellt gewissermaßen die Geburt von etwas Furchtbaren dar. Bei 1:06 (m:sec) haben wir die noch heile Welt, bei 1:51 (m:sec) trifft das Furchtbare auf diese Welt, und bei 3:29 (m:sec) ist die Apokalypse da, beendet alles und die Säle bleiben leer.

Thomas Neuroth, Januar 2022

9. Der Mond ist aufgegangen

Dieser Titel ist eine Orchester-bearbeitung des bekannten deutschen Liedes von Johann Abraham Peter Schulz, dessen Grundlage das Gedicht Abendlied von Matthias Claudius ist.

Die Bearbeitung besteht aus der Liedform A-B-A’ (der so genannten Bogenform, mit abweichendem Schlussteil A’). Teil A beginnt mit der 12-taktigen Originalmelodie, gespielt von einer Bratsche, begleitet vom Klavier.

Grafik aus dem Album

Ein Orchestercrescendo leitet über in Teil B, in dem zunächst das Streicherensemble die Hauptmelodie weiterführt, weiterhin unterstützt vom Klavier, allerdings in variierender, kontrapunktierender Weise. Nach acht Takten übernimmt die Querflöte das variierte Thema und schließt nach weiteren acht Takten diesen zweiten Teil ab. Mit insgesamt 16 Takten erweitert diese Variation nicht nur melodisch, sondern auch längenmäßig das Original. Der abschließende Teil A’ hält sich wieder weitestgehend an die Vorlage, diesmal in Form eines fast klassisch zu bezeichnenden Bläserchorals. Tiefe Blechbläser intonieren zunächst das Originalthema, welches nach sechs Takten zusätzlich vom Streicherensemble unterstützt wird, auf dem ab der Hälfte der Melodie die hohen Holzbläser das Gesamtklangbild vervollständigen und zur musikalischen Kulmination führen.

10. Wehmut, stark wie Banyuls

Das letzte Stück auf diesem Album ist wieder eine Adaption, diesmal die Bearbeitung von Camille Saint-Saëns’ Sonate für Fagott und Klavier op. 168 (der erste Teil, Allegro moderato). Dieses romantische Stück wird von Neuroth auf Art einer Ballade im 68-Takt präsentiert, wobei Robby Musenbichlers Gitarre zunächst das Thema führt. Kurz vor Ende übernimmt ein Fagott wie im Original die Melodie, untermalt von Streichern, Orgel und Cembalo im Stile von Ekseption.  Banyuls ist übrigens ein französischer Rotwein mit einem Alkoholgehalt zwischen 15 und 22 %.

Das Cover

Das Cover, eine Karikatur, stammt von Honoré Daumier, einem Künstler des 19. Jahrhunderts, der ein wahres Multitalent war. Er betätigte sich als Maler, Bildhauer, Grafiker und Karikaturist. Thomas Neuroth kolorierte die Originalvorlage.

Sonstiges

Auf dem Album sind Koordinaten zu finden, die für die Musik des Albums eine bestimmte Rolle spielen: 48°50’20.2″N und 2°19’39.9″E.

Auch sind sowohl eine Harley-Davidson als auch ein Pferd an bestimmten Stellen des Albums zu hören. Thomas Neuroth hat für die/den Erste/n, die/der diese Koordinaten zuordnen oder die Stellen der beiden Geräusche auf dem Album heraushören kann, jeweils eine kostenlose LP ausgelobt.

Wer sich das Album über Kopfhörer anhört, dem erschließt sich ein besonderes Hörerlebnis. Neuroth hat sich nicht mit normaler Stereotechnik zufrieden gegeben, sondern beim Abmischen die Positionen der Instrumente immer wieder geändert, als ob diese auf der Bühne umher wandern würden. Auch die Hörposition passt sich ständig der Musik an: Mal geht sie vom Dirigentenpult aus, mal befindet sie sich direkt vor dem Gitarrenverstärker oder inmitten der Streichinstrumente.

Kritiken

Fazit: Kann man dieses Album von Neuschwanstein wirklich 38 Jahre nach „Battlement“ als eine Art Comeback bezeichnen? Nein, kann man nicht, denn „Fine Art“ ist ein erneutes Meisterwerk von Neuschwanstein, das sich grundlegend vom Vorgänger unterscheidet und statt nach frühen GENESIS oder CAMEL zu klingen, klassische Musik und progressiven Rock in sich vereint und miteinander verschmelzen lässt. Art Rock allererster Güteklasse – ein Lehrstück aus „symphonisch-neoromantischem Orchesterklang und rockiger Kapelle“!

Thoralf Koß, Musikreviews.de, Dezember 2016

Wer also dem klassischen Progressive Rock zugeneigt ist und die Perlen der späten 70er/frühen 80er kennt und zu schätzen weiß, wird in „Fine Art“ die gelungene Wiedergeburt einer alten Szene-Größe erleben. Ich spinne jetzt mal und hoffe, dass dieses Album nur der Startschuss zu einer Renaissance der Band ist und der nächste Schritt mit dem einen oder anderen alten Weggefährten stattfindet, allen voran Frederic Joos.

Günter Schote, Babyblaueseiten.de, November 2016

Es ist lange her und es gibt viele neue Gesichter in der Band, aber ich denke, die meisten würden zustimmen, dass Neuschwanstein sich gut entwickelt hat, wobei Fine Art einen zukunftsorientierten und ehrgeizigen neuen Ansatz vertritt, der nicht versucht, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen.

Peter Thelen, Oktober 2017, übersetzt aus dem Englischen