Wie so oft liegen die Ursprünge auch dieser Band in einer Schulfreundschaft. Thomas Neuroth und Klaus Mayer, die beide am ehemaligen Realgymnasium in Völklingen/Saar Schüler waren, lernten sich Anfang der 1970er Jahre dort kennen und stellten schnell fest, dass sie beide ein Interesse an der Musik von Rick Wakeman und King Crimson und zusätzlich eine Passion für symphonischen Progressive Rock teilen. Aufgrund ihrer klassischen Musikausbildung (Thomas Neuroth lernte Klavier, Klaus Mayer Querflöte) schätzen sie die Strukturen und die Lyrik der klassischen Musik in Verbindung mit Rock-Elementen.
Sie beschlossen, eine gemeinsame Band auf die Beine zu stellen und gaben sich den Namen Neuschwanstein. Dieser Bandname kam nicht von ungefähr, stellt doch dieses von König Ludwig II. von Bayern erbaute Schloss die romantische Ära in ihrer eindrucksvollsten Form dar. Thomas Neuroth sagte dazu:
Deutsch sollte der Name sein und romantisch klingen. Ich will auch nicht ausschließen, dass ich das ‚Neu‘ aus meinem Namen drinhaben wollte.
Weitere Bandmitglieder (z. T. aus der gleichen Schule) waren schnell gefunden: Werner Knäbel spielte Bass, Peter Fischer Schlagzeug, Udo Redlich Gitarre und Theo Busch Violine.
Zunächst begnügte man sich mit Coverversionen aus dem angelsächsischen Standard-Rock-Genre, vor allem von Rick Wakeman-Songs. Ihr späterer Gitarrist und Texter Roger Weiler wohnte einem Konzert der frühen Neuschwanstein-Band bei und war vor allem von den Synthesizer-Sounds der Band bei deren Auszügen von Rick Wakemans The Six Wives of Henry VIII begeistert.
Flötist Klaus Mayer studierte gleich nach der Schulzeit Elektrotechnik, was ihn in die Lage versetzte, sich einen eigenen Synthesizer zu bauen, was zu dieser Zeit in Deutschland recht ungewöhnlich war.
Den passenden Schlagzeuger zu finden, gestaltete sich für Neuschwanstein recht schwierig, denn gerade in der Anfangsphase gab es einen häufigen Wechsel. Peter Fischer wurde alsbald von Volker Klein abgelöst, der wiederum 1973 durch Thorsten Lafleur ersetzt wurde. Noch im gleichen Jahr schied auch Thorsten Lafleur aus der Band aus und wurde durch Hans Peter Schwarz als Drummer abgelöst.
Uli Limpert übernahm im folgenden Jahr die Position von Werner Knäbel am Bass.
Alice in Wonderland
Sehr beeindruckt von Rick Wakemans Journey to the Centre of the Earth, beschloss Neuschwanstein, ein langes Stück Instrumentalmusik zu komponieren und arbeitete an der musikalischen Adaption des berühmten Lewis-Carroll-Romans Alice im Wunderland. Sie wählten dieses Märchen aufgrund seiner Atmosphäre und Fantasie, die sich für eine ausgefeilte und suggestive Musik eignete. Die Idee dazu und erste Versuche, das Stück umzusetzen, entstanden bereits 1970. Die Uraufführung dieses 40 Minuten dauernden Musikstücks fand 1974 im Marie-Luise-Kaschnitz-Gymnasium in Völklingen statt.
1975 wurde Neuschwanstein damit Gewinner eines Bandwettbewerbs im Saarländischen Staatstheater in Saarbrücken. Sie bezauberten das Publikum mit dem orchestralen und melodischen Reichtum ihrer Bearbeitung.
Dieser Erfolg ermutigte die Band, ihre musikalischen Horizonte zu erweitern, was 1975 durch den Eintritt des neuen Gitarristen, Roger Weiler, erleichtert wurde. Ihr bisheriger Gitarrist, Udo Redlich, hatte kurz zuvor die Band verlassen. Weiler hatte zunächst in einer saarländischen Hard-Rock-Band und dann in einer französischen Cover-Band gespielt, in der auch Frédéric Joos, der spätere Sänger von Neuschwanstein, Mitglied war.
Roger Weiler war u. a. beeinflusst von Genesis, insbesondere vom Titel Supper’s Ready aus deren Album Foxtrot und spielte eine Doppelhalsgitarre mit vielen Pedal-Effekten, die es ihm erlaubten, eine traumhafte Atmosphäre zu schaffen.
Gleichzeitig mit dem neuen Gitarristen trat auch Ulli Reichert in Erscheinung, seines Zeichens ein saarländischer Geschäftsmann mit fundierten Kenntnissen im Rockgeschäft. Er unterstützte die Gruppe auch finanziell und wurde Neuschwansteins Manager mit dem Ziel, der Band die Möglichkeit zu geben, ihre Musik aufzunehmen und zu vermarkten.
In der neuen Besetzung feilte Neuschwanstein nicht nur an ihrer Musik, sondern erstellte auch eine aufwändige Bühnendekoration sowie komplexe visuelle Effekte mit Masken und Kostümen, wie man sie von Genesis zu Zeiten Peter Gabriels kannte. In den hinteren Teil der Bühne wurden Dias projiziert, wobei Limpert und später Weiler die Liedsequenzen rezitierten, unterbrochen von den Illustrationen zur Geschichte. Auf der Bühne wurde eine Walddekoration aufgebaut, mit einem bedruckten Vorhang hinter den projizierten Illustrationen. Für die Blätter der Bäume wurden phosphoreszierende Farben aufgemalt, so dass die Bäume im Dunkeln leuchteten. Die Masken der Musiker entsprachen ihren Rollen in der Geschichte: Neuroth war der Zauberer, Weiler der Greif usw. Obwohl es ständig sowohl an Zeit wie auch an Geld mangelte, war Neuschwansteins Show für „Lokalmatadoren“ verblüffend und sehr professionell.
Thomas Neuroth sagte 1976 in einem Interview:
Wir wollen eine Musik machen, die im Gegensatz zu den sonst üblichen Musikrichtungen, wie Rock, Jazz o. ä., steht. Natürlich lassen wir uns beeinflussen, jedoch nicht mehr oder weniger als jeder andere Musiker, der selbst sehr viel Musik hört. Bei Neuschwanstein wird kein Wert auf Improvisation gelegt. Wir sehen uns weniger als kreativ Ausübende, sondern […] vielmehr als kreativ Konstruierende. Improvisationen sind meist emotional bedingt und gewährleisten nicht immer ein Optimum. Wir wollen, ohne Genesis oder Wakeman zu kopieren, dem Publikum mehr als nur ein Lied präsentieren, sondern ein Vergnügen für Ohr und Auge.
Die Reaktionen des Publikums auf die Bühnenshow und die Musik waren entsprechend: Es war das erste Mal, dass eine deutsche Rockband ein solch langes Stück Musik aufführte mit Kulissen, Kostümen, Maskerade und Spezialeffekten. Von kleinen Pannen blieb man allerdings auch nicht verschont. So fiel Roger Weiler gleich bei seinem ersten Konzert mit der Gruppe die Greifenmaske mit dem großen und schweren Schnabel herunter. Er hatte die Maske vor dem Auftritt zu hektisch aufgesetzt und nicht richtig festgebunden.
Aber auch Enttäuschungen musste Neuschwanstein wegstecken können. Bei einem Festival 1976 im französischen Sierck-les-Bains., vor einem begeisterten Publikum mit rund 10.000 Zuschauern, fühlten sich die Musiker schon wie große Stars, nur um plötzlich desillusioniert feststellen zu müssen, dass die Menge schon nach einer Viertelstunde begann abzuwandern, um dem Ritual der „flammenden Räder“ des St. Jean-Festes (Sommersonnenwende) beizuwohnen. Als die Zuschauer zurückkamen, war Neuschwansteins Show bereits zu Ende.
Inzwischen war der Bekanntheitsgrad der Gruppe so weit angestiegen, dass sie sogar als Vorgruppe von national sowie international erfolgreichen Bands wie Novalis oder Lucifer’s Friend auftreten konnten.
Das Jahr 1976 sollte für Gruppe noch eine große Bedeutung – auch für die Zukunft – haben, die sich erst viele Jahrzehnte später bemerkbar machen sollte. Um weitere potentielle Veranstalter für ihre Bühnenshow zu gewinnen, ging Neuschwanstein im April dieses Jahres in ein kleines Tonstudio in der Nähe von Saarbrücken, um ein so genanntes „Demoband“ ihrer „Alice in Wonderland“-Adaption aufzunehmen und auf Kassette – als Werbeträger – zu kopieren.
Frédéric Joos, der gerade seinen Dienst in der französischen Armee absolviert hatte und ehemaliger Bandkollege von Roger Weiler war, wurde von Thomas Neuroth eingeladen, an einer kleinen Tournee an der Mosel teilzunehmen. Neuschwanstein trug sich mit der Absicht, einen „lyrischeren“ und „gesanglicheren“ Stil zu erreichen und dafür schien Joos genau der passende Sänger zu sein. Sein Gesang erinnerte stark an Peter Gabriel, aber auch Vergleiche mit dem The Strawbs-Sänger Dave Cousins wurden gezogen.
Neues Material wurde gesammelt, wobei die Songthemen von den einzelnen Musikern geschrieben wurden, bevor sie von der gesamten Gruppe während der Proben arrangiert und allgemein ausgearbeitet wurden. Das erste Konzert von Joos mit Neuschwanstein fand im saarländischen Saarlouis statt. Auf der Bühne präsentierte sich die Gruppe eher zurückhaltend und verwendete Kostüme nur für Teile der „Alice“-Adaption. Joos war ganz in Weiß gekleidet, was ihm eine Art „engelsgleiche Aura“ verleihen sollte. Er verzichtete auf ein „Bühnenschauspiel“, um sich ganz auf den Gesang und die akustische Gitarre zu konzentrieren, die er bei den meisten Titeln spielte. Eine aufwändige Lichtshow und Trockeneis wurden jedoch weiterhin ausgiebig eingesetzt.
Battlement
Die zahlreichen neuen Titel, im typischen Progressive Rock-Stil, überzeugten ihren Manager Uli Reichert dermaßen, dass er Kontakt mit Dieter Dierks, dem damaligen Produzenten der Scorpions, aufnahm und dessen Studio in Köln buchte, um ein komplettes Album mit Neuschwanstein zu produzieren.
1979 erschien dann dass erste „richtige“ Album der Gruppe unter dem Titel „Battlement“ als LP.
Oft wurde der Band vorgeworfen, eine Kopie der Peter Gabriel- und Steve-Hackett-Ära zu sein. Doch dafür sind die Kompositionen viel zu eigenständig, auch wenn natürlich die Stimme des Sängers Frédéric Joos in gewissen Passagen der von Peter Gabriel ähnlich und auch das Gitarrenspiel von Roger Weiler auf jeden Fall von Steve Hackett inspiriert ist.
Nach „Battlement“ wurden keine neuen Alben mehr veröffentlicht. Frédéric Joos verließ die Gruppe, noch bevor das Album veröffentlicht wurde, da ihm eine andere Zukunft als die eines Rocksängers vorschwebte. Ihm folgte Rainer Zimmer. Joos kehrte nach Frankreich zurück und wurde ein erfolgreicher Kinderbuch-Illustrator. Michael Kiessling aus Trier und Wolfgang Bode aus Saarlouis wurden als Ersatz für Frédéric Joos bzw. Rainer Zimmer in die Band geholt.
Kiessling versuchte, die Bühnenshow der Gruppe wieder theatralischer zu gestalten, indem er wieder Kostüme einsetzte und die Auftritte generell optisch aufwertete. Außerdem erhielt die musikalische Ausrichtung einen intimeren Stil.
Im Herbst 1980 löste sich die Gruppe jedoch endgültig auf, da einige Bandmitglieder sich gezwungen sahen, ihre berufliche Laufbahn fortzusetzen. Außerdem herrschte ein allgemeines Gefühl der Entmutigung.
Mangelnder Erfolg, das Aufkommen von New Wave und die allgemeine Verachtung für Progressive entmutigten die meisten Mitglieder der Band, die schließlich 1980 auseinanderbrach, aber es bleibt dieses durchaus respektable Album als Zeugnis dessen, was hätte sein können… Und das ist frustrierend.
Marc Moingeon, Juli 2007, aus dem Französischen übersetzt
Thomas Neuroth und Michael Kiessling beschlossen, ihre musikalische Laufbahn fortzusetzen, Hans Peter Schwarz und Klaus Mayer hatten ihr Studium beendet und wollten sich einer Karriere außerhalb der Musik widmen. Roger Weiler kehrte zu seiner ursprünglichen Band, den Nightbirds, zurück und spielte Sixties-Coverversionen. Wolfgang Bode schloss sich einer Jazzband an. Michael Kiessling verstarb 2019.
2016, nach einer Pause von 37 Jahren, erschien ein neues Album von Neuschwanstein, „Fine Art“. Im Grunde genommen ist „Fine Art“ ein „Ein-Mann-Projekt“ des einzigen Ur-Mitglieds von Neuschwanstein, Thomas Neuroth. Mit Hilfe zahlreicher Musiker kreierte Neuroth ein bemerkenswertes Album, das kaum noch nach der ursprünglichen Musik von Neuschwanstein klingt – trotz intensivem Querflöten-Einsatz – auch nicht nach den früheren Vorbildern wie Genesis, sondern viel eher nach der Kombination aus Emerson, Lake and Palmer, klassischer, romantischer und progressiv hart rockender Komplexität, die in Form einer Suite auftritt.